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LINDA
Vor Lindas Augen öffnete sich die Tür der S-Bahn. Ein neben ihr stehender Herr hatte an den Bügeln der Tür gezogen. Damit half er Ihr, denn sie hatte zwei Einkaufstaschen in den Händen Hand und hätte diese zum öffnen der Tür aus der abstellen müssen.

Nasskalt blies ihr der WinterWind jetzt in das Gesicht.

Sie stieg aus.

der Kontrast zwischen der warmen, hell erleuchteten S-Bahn und dem dunklen, kalten Winterabend machte sie frösteln.

Viele Leute stiegen aus.

Es war 17:30 Uhr. die Büros in der großen Stadt waren schon leer. Dafür füllten sich jetzt die Nahverkehrsmittel und die Straßen und transportierten die Massen in die umliegenden Trabantenstädte.

Es war der 17. Dezember. Kurz vor Weihnachten.

Überall in der Menge waren Familienväter oder -Mütter mit kleinen  Paketchen unter dem arm zu sehen. In den Kaufhäusern wurde jetzt zum Endspurt auf das Buffet der Geschenke gerufen.

Linda lebte allein. Ihre Eltern wohnten weit weg, irgendwo im Land und sie wusste, dass sie es sich auch dieses Jahr nicht leisten konnte, sie zu besuchen. Außerdem hatte sie schon lange keinen Bezug mehr zu ihnen, seit sie damals im Streit auseinander gegangen waren.

Gelegentlich hatte Linda einen "Freund", wie sich die Männer immer nannten. aber, sie fühlte sich von diesen immer nach einer Weile irgendwie mehr benutzt als geliebt. Und spätestens ab da machten diese, nur Schmerzen in ihr hinterlassend, sich auch wieder aus dem Staub. 

Linda war einsam. Und an diesem kalten Winterabend war es, als wenn der nasskalte Wind die Einsamkeit noch tiefer in ihre Seele hinein blies.

Auf dem weg zu ihrem Hoch - wohn (?) -haus, musste sie immer ein Stückchen an dem kleinen Bach entlang laufen. Der weg war zwar beleuchtet, aber die Lampen standen ziemlich weit auseinander. Und außerdem waren es noch diese alten Gaslaternen, deren Licht sowieso nicht so hell war und das durch den Wind immer ein wenig flackerte.

Linda fürchtete sich immer ein wenig wenn sie diesen Weg entlangging, auch wenn andere aus ihrem Hochhaus jetzt dort liefen. Dort auf dem weg  stand auch eine alte Bank in einer Nische im Gebüsch und jetzt lagen dort vermodernde Blätter darauf. Im ZwieLicht der Gaslaternen konnte sie es sehen. Wie aus Gewohnheit schaute sie jedes Mal zu der Bank hin, als wenn sie nachsehen wollte, ob dort jemand Platz genommen hätte. Aber heute saß dort niemand. Es war zu kalt und auch zu nass darauf.

In dem Moment, in dem sie an der Bank vorbeiging geschah etwas Seltsames: Von der Bank her war es, als wenn die Wärme der Sonne ihr in den Rücken scheinen würde. Sie spürte es genau. Das war wie im Sommer,  im Schwimmbad, wenn sie sich in der Sonne braten ließ. Sie spürte die Wärme zuerst im Nacken, an den Handflächen und an den Unterschenkeln, denn ihr Mantel ging ihr nur bis zu den Knien. Die Wärme war da, aber das Licht sah sie nicht. Unwillkürlich drehte sie sich um, denn sie wollte sehen, was dort wäre, oder besser ob da etwas wäre, das sie übersehen hatte als sie daran vorbeiging.

Leer und still stand die Bank da, und jetzt war die Wärme auch nicht mehr aus der Richtung zu spüren. sie kam jetzt aus Richtung Bach, oder besser: Sie war wieder hinter ihr.

Ein Mann ging an ihr vorbei.

Er schien überhaupt nichts zu merken.

Fast hätte sie ihn gefragt, ob es auch fühlte aber er war so in seinen Mantel gehüllt und sah sehr verfroren aus, dass sie ahnte, dass nur sie es bemerkte, was hier so warm war.

Vorsichtig drehte sie den Kopf. Jetzt fiel die Wärme auf ihre kalten Wangen und sie schloss die Augen und genoss dieses Gefühl.

Allmählich wurden ihr die Taschen zu schwer. Sie stellte sie ab, immer noch das Gesicht nach hinten gedreht, um die Wärme zu spüren.

Aber als sie sich zu der Wärme herumdrehen wollte, ging diese wieder hinter sie.

Eine Frau aus ihrem Haus ging an ihr vorbei und sah sie eigenartig an. Linda ahnte, was sie dachte, denn sie musste sie auf dem Weg zu ihr hin gesehen haben. Verschämt nahm Linda die Einkaufstaschen und ging eilig nach hause. Die Wärme wich bis zu ihrer Haustür nicht von ihrem Rücken, aber Linda war etwas ängstlich, und wollte nicht noch mal so ertappt werden, wie vorhin...Also ließ sie Wärme, Wärme sein und schloss die Haustür auf.

Linda wohnte in einer von diesen siebziger Jahre Bausünden der Großstadtplaner. Zwanzig Stockwerke hoch aus reichlich Beton und überall rechteckigen formen. Zweckmäßig...aber hässlich. Gepflasterte Fußwege und Rasen außen herum und zu wenig Parkplätze. Das wärmste an dieser Burg war das rote Lämpchen über der Klingeltafel, das in dem Lichtschalter leuchtete, mit dem man das FlurLicht von außen anschalten konnte.

Sie drückte die schwere Aluminiumtür, die einen automatischen Türschließer und eine Drahtglasscheibe mit Riss hatte auf und trat in den unteren Hausflur. Dort wo die Briefkästen der Hausbewohner waren und es ihr hundertfach jeden Abend "bitte keine Werbung" entgegen sagte, merkte sie, dass die Wärme in dem Maß weniger wurde, wie der Türschließer die schwere Haustür langsam zudrückte.

Sie hörte den Aufzug fahren und blieb ein Moment stehen. Als sie die Tür öffnete hatte sie das FlurLicht angeschaltet und da es mit einer Zeitschaltung versehen war ging es nach einer Weile wieder aus, während Linda so dastand. Sie wäre gerne wieder hinausgegangen. Die Erinnerung an diese Wärme blieb in dieser Stille und der Dunkelheit sehr stark.

Linda wurde aus ihren Gedanken gerissen, denn sie hörte die Aufzugtür aufgehen und das Licht ging an. Schnell ging Linda an ihren Briefkasten, um nicht noch einmal eine peinliche Situation zu erleben. Aber wie fast immer war dieser, bis auf ein paar Werbezettel, leer.

zwei halbstarke Jungs aus dem 13. stock gingen an ihr vorbei. noch bevor der erste aus der Tür war hatte er sich eine Zigarette angesteckt und blies Linda frech den Rauch zu. Der andere lachte. Ihre Stimmen verschwanden beim Hinausgehen in der Dunkelheit. Wieder ging das Licht aus. Linda tastete sich zum Schalter vor und schaltete es wieder an. Sie nahm ihre Einkaufstaschen und ging zum Fahrstuhl. Sie drückte auf die taste auf der die  [11] stand.

Die Türen schlossen sich und sie spürte, wie der Fahrstuhl sich anhob.

Linda war müde. Die arbeit im Büro stresste sie sehr. Linda war eine attraktive Frau und in ihrem Büro waren die Männer öfter richtig blöde zu ihr, weil sie sie "anbaggern" wollten oder einfach nur Spaß daran hatten, sie zu necken, obwohl Sie unattraktiv und in die Arbeit betreffenden Dingen of ungerecht und sogar feige waren. „Männer können ganz schön blöd sein..“, dachte sie. Hier im Fahrstuhl ging ihr so eine Episode von heute gerade noch mal durch den Kopf.

Der Fahrstuhl blieb stehen. Die Türen öffneten sich. Sie trat heraus, schaltete das Licht an und  ging den Korridor nach hinten zu ihrer kleinen Wohnung.

Sie kochte sich ihr kleines Abendessen, aß es vor dem durch eine Seifenoper gelangweilten Fernseher auf und ging dann ins Bad. Sie duschte sich, entfernte ihr Make-up und ging zu Bett. als sie das Licht ausschaltete kam ihr das vorhin Erlebte wieder in den Sinn. Der Tag heute war wie sonst, bis auf das Erlebnis bei der alten Bank. Mit der Erinnerung an die Wärme auf ihrer haut schlief sie ein.

Der nächste Tag verlief wie sonst auch: Die Reibereien im Büro, der Stress vom Chef, das Gedränge in der S-Bahn, das Warten bis endlich ihre Station kommt,  wieder der Unterschied zwischen der warmen S-Bahn und der nasskalten Winterluft.

Auf dem ihr so bekannten Weg zum Wohnsilo wurde sie auf einmal etwas nervös. Kurz vor der Bank hatte sie eine richtige Erwartung. Etwas enttäuscht stellte sie fest, dass dort nichts Außergewöhnliches zu bemerken war. Aber als sie wieder fast an der Bank vorbeigegangen war, rührte sich etwas hinter ihr. Wieder spürte sie die Wärme, und diesmal genoss sie diese richtig: Jeden schritt ging sie bewusst langsamer um mehr davon zu fühlen. Auf einmal erschrak sie. Eine Hand legte sich auf ihrer Schulter! Sie fühlte es genau! ganz sanft und auch nicht aufdringlich. aber es war eine Hand. Sekunden war sie so erschrocken, dass sie sich nicht rührte, aber dann drehte sie sich hastig um. Wenn da jemand etwas von ihr wollte?

Linda starrte in die Dunkelheit. Die Hand hatte sie losgelassen. Die Wärme blieb diesmal nicht hinter ihr und so fühlte sie die Wärme im  Gesicht. Linda war von dem Kontrastprogramm verunsichert: Diese angenehme Wärme stand für Sie in einem Gegensatz zu dem Schreck durch die Handberührung, den Sie gerade noch in sich spürte. "Was soll das?  Was ist los? Ist da jemand?“

Sie lauschte. das einzige was Linda hörte, war der Wind in den Sträuchern und das Plätschern des Baches in der Dunkelheit. Lind sah zur Bank herüber. Noch weiter weg tauchte jetzt die Silhouette ihrer Nachbarin auf. Verstört drehte Linda sich um und lief rasch nach hause.

Ihr Abendbrot schmeckte ihr kaum. Sie ließ den Fernseher zum ersten Mal seit langem schweigen und stellte sich an ihr Fenster. Sie sah die Lichter der Vorstadt und fröstelte.

"Was soll das ganze nur?", dachte sie.

Nach der Dusche ging sie rasch ins Bett. Lange lag sie wach, bis sie erschöpft einschlief.

In dieser Nacht hatte sie einen Traum:

Ständig ging sie über Brücken, hinter denen wieder neue Brücken auftauchten. Sie blieb vor einer Brücke stehen, hinter der sie im Gegensatz zu den anderen das Land sehen konnte. Am Ende dieser Brücke stand ein weißes Pferd. Daneben stand ein Tisch, gedeckt mit Essen. Sie bekam Hunger im Traum. Sie wollte zu dem Tisch. Nur sie hatte Angst vor dem Pferd, das neben dem Tisch stand. Immer, wenn Sie zu dem Tisch gehen wollte, bäumte sich da Pferd auf und sah sie danach an. Sie schauten sich immer wieder an...

Am nächsten morgen hatte sie verschlafen. Normalerweise stand sie gegen 6.00 Uhr auf  jetzt weckten sie die Strahlen der Sonne. Das war  ihr besonders peinlich, weil sie eigentlich immer korrekt sein wollte und üblicherweise pünktlich im Büro erschien. Sie sah auf die Uhr. Es war 8.30 Uhr. In einer halben Stunde begann ihre Arbeitszeit. Das war unmöglich zu schaffen!

Linda machte sich in erst einmal einen Kaffee und ging ins Bad. sie sah in den Spiegel und wollte sich schminken. In dem Moment fasste sie den Entschluss heute einen Tag frei zu nehmen. "Immer diese Schminkerei!", dachte sie, „ Wer kennt schon mein wirkliches Gesicht..., wer will das überhaupt sehen...?“ Auf der anderen Seite fühlte sie sich ohne dieses zweite Gesicht, an das sie sich so gewöhnt hatte, sehr unsicher.

Sie ging aus dem Bad und rief in der Firma an. Der Urlaubstag sei kein Problem, meinte ihr Chef und so freute sie sich auf den freien tag

Nach dem Frühstück zog sie sich an und überlegte, was sie tun könne. "Ich gehe heute 'mal spazieren." sagte sie laut zu sich und zog sich Mantel, Schal und dicke Stiefel an und verließ ihre Wohnung. Auf dem Flur hörte sie die Geräusche, die dieses Hochhaus ihr schon so lange zu bieten hatte: Kinderstimmen, Türenschlagen, den Aufzug, das Summen der Heizungsrohre, die Toilettenspülung...

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl bis nach unten, kontrollierte ihren Briefkasten und trat vor die Tür.

Dort blieb sie stehen und musterte von Fern den Platz mit der Bank.

"Dort werde ich wieder vorbeigehen müssen!", dachte sie. sie ging auf diesen Platz zu. Wieder, gerade als sie an der Bank vorbeiging, tauchte die Wärme auf.  Sie diese war überwältigend. Der Wind blies eiskalt aus Ost und trotzdem  fühlte sie die Wärme auf ihrer Haut, wie im Hochsommer. Der Himmel hatte sich inzwischen wieder bedeckt und so konnte das auch nicht die Sonne sein, die sie heute Morgen geweckt hatte.

Linda blieb stehen. Sie ahnte, dass sich jetzt gleich die Hand auf ihre Schulter legen würde. Und genauso war es. Etwas unschlüssig stand sie da. Die Hand störte sie auf einmal gar nicht mehr so. Auf der anderen Seite fühlte sie den drang wegzulaufen, aber die Behutsamkeit der Berührung ließ sie stehen bleiben.

Einen Augenblick  war sie sich nicht schlüssig was sie jetzt tun sollte.

Wenn sie sich jetzt bewegte, würde die Hand sie wieder loslassen, so wie gestern? Oder würde sie sie gar festhalten. Die Wärme, die sie von außen spürte, begann über die Hand in ihren Körper zu fließen. Sie spürte den Drang, sich zu bewegen...

Sie begann einfach zu gehen und die Hand blieb auf ihrer Schulter und verströmte diese unwirkliche Wärme. Sie sah die Eiszapfen an den Bäumen und Laternen aber sie fror überhaupt nicht. Sie fragte sich, warum sie eigentlich vor dieser Berührung Angst gehabt habe, und lief in den morgen hinein.

Nach ungefähr fünf Kilometern war sie auf einem Feldweg außerhalb der Vorstadt angekommen. Auf einmal begann die Hand sie zu führen. Linda ging immer an der Bahnstrecke entlang, die außerhalb des Vorortes parallel zum Bach verlief, und dachte nach. In Gedanken immer zwischen der seltsamen Situation und der Frage: „Was soll das jetzt hier eigentlich alles?“. Als neben ihr eine kleine Brücke über den Bach auftauchte, begann die Hand sie in diese Richtung zu drücken. Ganz zart und vorsichtig. Linda blieb stehen und  sah in die Richtung, in die der Weg führte, der über die Brücke führte. Ganz weit hinten war ein Wäldchen zu sehen, aus dessen kahlen Wipfeln ein Hausdach herausragte.

Sie zögerte kurz und lief dann über die kleine Brücke, die über den Bach führte auf das Wäldchen zu.

Die Hand wurde wieder lockerer und kniff ihr freundschaftlich in die Schulter, wie als wenn sie sagen würde: "Gut gemacht!"

Als sie  bei dem haus  eintraf war sie unschlüssig, was sie tun sollte. Sie stand vor der Gartentür und lunzte durch das dichte Gebüsch in den Garten. die Blätter waren zwar schon gefallen, aber die Zweige der Sträucher waren sehr dicht. sie erkannte ein kleines Licht durch das Gezweig schimmern und auf einmal schob sie die Hand wieder zart voran. Da sie schon längst keine Angst mehr vor der Hand hatte, öffnete sie die Gartentür und ging in den Garten.

Nach der ersten Wegbiegung sah sie das Haus. Es war ein altes, großes Holzhaus, wie eine viktorianische Villa, von außen weiß gestrichen mit einem schwarzen Dach.

Rundum war eine überdachte Veranda auf der verstreut das Laub der Bäume des Gartens lag.

Linda näherte sich dem Haus. Sie blieb einen Augenblick stehen und sah sich um. im Schnee vor dem Haus waren spuren einer Katze, und rechts von ihr stand ein Vogelhaus in dem sich zeternd Spatzen um das Futter stritten.

An einer Ecke der Veranda stand ein alter Holzschaukelstuhl, auf dem eine Decke zusammengelegt war.

Plötzlich ließ die Hand sie los. Linda traute sich, sich umzudrehen, aber sie wusste schon, was sie sehen würde, nämlich niemanden.   

Sie ging die Stufen zur Tür hinauf und fand diese nur angelehnt. Vorsichtig drückte sie die schwere Haustür auf und trat ein. wohlige Wärme kam ihr entgegen, fast so wie die, bei der alten Bank. Sie lehnte die Tür wieder an. Das Knarren der Scharniere ließ sie erschrecken, weil sie eigentlich nicht auf sich aufmerksam machen wollte. Aber niemand kam, rief, oder rührte sich und so sah sie sich erst mal um.

Sie stand in der Halle des großen Hauses. Es war still. In einer Ecke der Halle war ein Kamin, in dem ein Feuer knisterte. Überall standen alte Möbel geschmackvoll mit Gestecken versehen herum. Und es brannten Kerzen auf goldfarbenen Leuchtern. Große Bilder von alten Häusern und schönen Landschaften hingen an den Wänden und eine große Treppe, auf der ein schwerer Teppich lag, führte in den ersten Stock. Unten am fuß der Treppe stand ein Schild, das nach oben deutete.

 Auf dem Schild stand: "Guests This Way Please!"

Da Linda gut englisch konnte und sich hier auch eher wie ein Gast fühlte ging sie hinauf. Die alte Treppe knackte unter ihren Füßen. es roch nach Kerzenwachs, etwas Rauch vom Kamin und Schellackpolitur;  eben dieser typische Geruch von alten Möbeln, den man aus Großmutters Wohnstube kennt...

Es schien ein sehr vornehmes Haus zu sein in das Linda hier geraten war. sie folgte immer den Schildern und kam zu einer reich verzierten Tür mit einem schweren Messinggriff als Klinke.

Wieder zögerte sie. Neben der Tür stand ein Stuhl. Auf den setzte sie sich und fing an sich diese ganze Geschichte noch einmal durch den kopf gehen zu lassen.

Was war eigentlich geschehen? Es fiel Linda auf, das diese ganze Geschichte eigentlich nur passiert ist, weil diese Wärme sie traf, vor zwei Tagen, an der alten Bank. Und dass sie zwar bis hierher gelaufen ist, aber angefangen und gewollt hat sie das ganze gart nicht so recht. Es war für sie eher eine Sache der Neugier...

Sie sah zur Tür. Da war dieses Messingschild mit der Aufschrift "Welcome". Da war aber auch ihr Misstrauen dort hineinzugehen. Da war die Erinnerung an die Wärme und die Behutsamkeit der Hand. Und da war der Gedanke an weglaufen und das alles zu vergessen.

Linda stand auf und wollte gehen. Sie blickte zur Tür hin und das ließ sie stehen bleiben. Durch das Schlüsselloch schien ein heller Lichtstrahl auf den schweren Teppich im Flur vor der Tür. Er ließ die stelle des Teppichs in den schönsten Farben leuchten.

Jetzt war Linda wieder neugieriger als zuvor und fasste den Türdrücker an. Er war schwer und warm, wie, als wenn es in dem Raum dahinter sehr warm war.

Linda drückte den Griff nach unten. Vorsichtig öffnete sie die Tür und sah in den Raum...

Sie musste sofort die Hand vor ihre Augen halten und durch die Finger blinzeln. Was sie in diesem Raum sah übertraf alles, was sie bisher an Licht in ihren 24 Jahren gesehen hatte. Es war überdimensional hell. Linda konnte die Lichtquelle  nicht ausmachen aber es war einfach nur gleißend hell. Gleichzeitig waren überall an den wänden Spiegel angebracht, die das Licht noch verstärkten. Linda sah sich in einem der Spiegel und erschrak. Und sie sah noch mehr. Überall waren Bilder aufgehängt. Es waren Bilder aus ihrem leben. Es war schwer sie zu sehen. Das Licht war gleißend hell. Linda konnte nur mit Mühe sehen. Sie ging durch den Raum und hatte bereits völlig die Orientierung verloren. „Wo ist die Tür?“ Es war heiß hier... Je weiter sie in den Raum ging, umso heißer wurde es. Sie wollte sich umdrehen, da sah sie, dass sie in den spiegeln nackt zu sehen war. Obwohl sie sich heute Morgen geduscht hatte sah ihre Haut dreckig und speckig aus. Sie sah aus als hätte sie jemand mit matschigen oder Schmieröl verschmierten Händen angefasst. Sie war über und über voll mit diesen Hand- und Fingerabdrücken. Es war die Hölle für sie.  Und dann diese Bilder: Alle ihre "Freunde" waren da zu sehen, als wäre es gestern. Der streit mit ihren Eltern war genauestens dokumentiert und sogar Momente, in denen sie als Teenie-Mädchen gelogen, betrogen und gestohlen hatte...alles war zu sehen. Es schnürte ihr die Kehle zu. Hastig sah sie an sich herab. Sie hatte keine Kleider mehr an! Sie sah diese schmierige schwarze Schicht auf sich und bekam Angst! Gleichzeitig begannen ihre Augen zu brennen und die Sehkraft ließ nach. Sie fühlte, wie sie langsam erblindete. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, sie hatte Angst, wahnsinnig zu werden.

"Hilfe! Hilfe! Was ist hier los! Bringt mich hier raus! Hilfe! Warum hilft mir denn keiner! ich verbrenne! Ich sehe nichts mehr! wer hilft mir denn?? Hilfe!“

Linda schrie verzweifelt. Sie rannte herum, um die Tür zu finden. Sie sah jetzt nichts mehr und tastete sich an den wänden entlang. Aber die Tür war weg! Verzweifelt hämmerte sie gegen die Wände bis auf einmal eine Berührung ihre Verzweiflung wie ein Schock unterbrach.

Die Hand berührte sie wieder!!!! Linda registrierte das mit einem  Aufschrei. Sie fasste sich und schrie die Hand an: "Was soll das eigentlich hier! Ich will wieder raus hier! Ich habe dich nicht gerufen! Du hast mich hier hergebracht...mach , dass du wegkommst...ich will hier weg!“ Linda begann verzweifelt zu weinen und sackte an der wand zusammen.

"LINDA?!", hörte sie eine stimme sagen

"Linda?!"

Die stimme fragte vorsichtig. Sie kam aus der Richtung aus der die Hand kam. Linda fasste auf ihre Schulter. Da lag die Hand und sie fühlte noch mehr Wärme. Die Hand lag auf der nackten, verschmierten haut. Sie zog sich nicht zurück. Linda begriff, dass es besser war vertrauen zu fassen. Hier war jemand der ihr ihre Würde ließ, obwohl sie nackt und schmutzig vor ihm kniete. Sie sah ihn nicht, aber er sah sie, ohne dass er etwas von ihr wollte. Er rief nur ihren Namen. Und er wollte eine Antwort. Aber wer war das??

"Wer bist du?" fragte Linda leise.

"Steh auf und komm’ mit, ich werde es dir zeigen!", antwortete die sanfte Stimme.

zögernd stand Linda auf und ließ sich von der Hand führen sie sprachen nichts. Linda hörte ihre nackten Füße auf dem Boden des großen Saales patschen. Der Mann, dessen Hand immer noch auf ihrer Schulter lag, atmete ruhig und seine Schritte waren kaum zu hören. Nur das rascheln seines Gewandes war zu hören. Linda kannte sich in Bekleidung aus, und sie tippte auf einen seidenartigen Stoff.

Der Saal schien endlos zu sein, aber nach einer Weile war ein anderes Geräusch zu hören. Irgendwo rauschte es. Es hörte sich an, als ob ein kleinerer Wasserfall plätschernd einen Abhang hinabstürzte. Linda wagte nichts zu fragen. Es war ihr ohnehin  unheimlich, was hier mit ihr geschah. der Mann blieb stehen. Er öffnete eine Tür zu einem Raum, der so etwas wie ein Bad sein musste. Es roch nach allen möglichen  exotischen Seifen und Parfums und es war warm und feucht. Linda fühlte, wie die Hand sie in eine flache Wanne führte.

"Ich werde dich jetzt waschen, Linda, so wie du aussiehst kannst du unmöglich zum Fest erscheinen."

"Wirst du mich anfassen?“ Fragte Linda vorsichtig? „Das muss ich wohl.“ antwortete die Stimme behutsam.

„Na gut", antwortete sie," aber was ist das für ein Fest?"

Die Hand löste sich von ihrer Schulter und ein Wasserhahn ließ sein Wasser offensichtlich in eine Schüssel.

Die Hand begann sie einzuseifen, angefangen beim Kopf. es war eine eigenartige seife. Linda fühlte richtig, wie sie diesen schwarzen, schmierigen film auf ihrer haut ablöste.

Sie begann sich zu entspannen. es störte sie nicht, dass sie noch nicht wusste, wer sie gerade reinigte, im Gegenteil, die Anonymität ließ ihre angst schwinden. Dieser Fremde ließ sie sie selbst sein, er mäkelte nicht an ihr herum, er wollte auch nichts von ihr. Gleichmütig seifte er sie ein. Langsam wurde sie neugierig. Da sie nichts sah, wollte sie sein Gesicht betasten. Sie fasste instinktiv aber wie zufällig in die Richtung, wo sie es vermutete, aber da war nichts.

Die Hand war fertig. Linda hörte, wie sie im Becken abgespült wurde.

"So, jetzt müssen wir in ein anderes Zimmer." hörte Linda die stimme sagen.

die Hand legte sich wieder auf die Schulter und schob sie vorsichtig vorwärts.

"Aber du hast mich noch gar nicht abgespült!" sagte Linda " der ganze Schmier hängt ja noch drauf!"

„Keine Sorge!", sagte die Stimme. In dem Moment öffnete sich vor Linda eine Tür. Das rauschen des Wasserfalls, war so laut, das Linda ihre eigene Stimme nicht mehr gehört hätte. Sie hielt sich jetzt an der Hand auf ihrer Schulter fest, denn sie erwartete in jedem Augenblick das Wasser. Und richtig! es kam so gewaltig, dass sie dachte, ihre Beine würden darunter zusammensacken. Aber jetzt merkte sie, dass die Hand sie hielt. es war  unbeschreiblich! Das Wasser war warm und pulsierte auf ihrer haut, wie Stromschläge. Sie hatte das Gefühl zu fliegen und musste lachen. Sie fühlte sich frei, frei von allem, was sie an Schwerem und Düsterem je erlebt hatte. Vor ihrem inneren Auge tauchten alle Verletzungen und Demütigungen auf. Sie spürte das Wasser auf der Haut, aber das Wasser schien in ihre Seele zu laufen. Die Bilder und Erinnerungen wurden gleich wieder weggespült. Nach einer weile tauchte auch alles das wieder auf, was sie in den spiegeln im großen Saal gesehen hatte. Alles, wofür sie sich so schämte, und das sie am liebsten verborgen hätte. All das spülte diese erfrischende flut aus ihr heraus und jetzt begann sie zu tanzen und zu lachen, wie ein kleines Kind. Die Hand war immer noch auf ihrer Schulter und ließ sie gewähren so lange sie wollte. sie vergaß die Zeit und alles um sie herum. Sie war so  frei und durfte es sein.

Erschöpft blieb sie nach einer Weile stehen. Immer noch gluckste das Lachen aus ihr heraus, aber sie wollte sich setzen. Sie musste sich jetzt an der Hand festhalten, so weich waren ihre Knie geworden. Die Hand führte sie weiter. Das Wasser rauschte jetzt hinter ihr und sie griff noch einmal mit der Hand hinein, um es ein letztes mal zu fühlen.

Sie nahm das Gefühl mit in das nächste Zimmer, in dem sie , so nass wie sie war auf einen weichen Stuhl gesetzt wurde. Die Hand löste sich von ihrer Schulter und begann sie mit einem schweren, weichen Frottierbadetuch abzutrocknen. Dann durfte Linda sich darin einwickeln und wartete ab, was nun geschehen würde. Eine alte Schranktür knarrte laut und sie hörte, wie ein Kleidungsstück von einem Bügel genommen wurde.

"Leg' das Handtuch einmal weg, und steh bitte auf!", sagte die ihr nun schon bekanntere stimme. Linda tat es.

Die Hand legte ihr ein kleid um, das sie befremdete. es war geschmeidig wie Seide, aber ganz schwer, und wärmte die haut so, wie sie damals die Wärme empfand, als sie an der alten Bank vorbeiging. Gleichzeitig hörte sie, wie die Tür sich öffnete und der Mann, der die ganze Zeit bei ihr war, hinausging.

Linda war etwas ratlos. sie tastete sich in dem Raum umher. es war ein Ankleidezimmer. sie stieß an ein Möbel und fühlte dabei, dass sie etwas in der Tasche des Gewandes hatte. Es war ein kleines Tübchen, so groß wie eine Probepackung Zahnpasta. Lindas Augen brannten noch ein wenig und auch die haut um die Augen war ganz gespannt. Linda öffnete die Tube und roch den ätherischen duft einer Creme. sie nahm davon und rieb sich zuerst die Augenlider und die haut um die Augen ein. Der ätherische Dunst zog auch in ihre Augen und veränderte langsam etwas. Sie begannen zu tränen und dann begann sie wieder Licht zu sehen! Hastig rieb sie sich die creme in die Augen. Die Creme brannte wie Feuer, aber nach einer kleinen Tränenflut konnte Linda wieder sehen! Nachdem die Tränen aufgehört hatten zu fließen, stand sie vor einem Spiegel und sah sich mit nassen haaren und diesem wunderschönen weißen Gewand dort stehen. Linda lächelte. Wie gut war die Hand doch zu ihr gewesen, wenn sie auch Angst hatte, in dem großen Saal. Auf dem Sims des Spiegels lag eine Haarbürste und ein Fön und diverse Fläschchen. Auch lag dort etwas, was sie befremdete: Eine weitere leere Tube, in der vorher die gleiche Creme für die Augen gewesen sein musste. Linda nahm sie interessiert in die Hand. sie dachte nach: "Da war schon vor mir jemand hier!" sagte sie leise.

Ihr Kopf wurde kalt und so begann sie sich ihre Haare trocken zu föhnen. Sie schaute dabei in dem Zimmer umher und sah, dass außer diesem großen Schrank, dem Stuhl und dem Spiegel nichts darin war. Es war alles sehr geschmackvoll eingerichtet und Linda fühlte sich sehr wohl.

Als die haare trocken waren schaltete Linda den Fön aus. Es war auf einmal Musik im Haus zu hören, die sehr festlich klang. "Ach, ja, richtig! Das Fest!" erinnerte sie sich und wollte aus dem Zimmer gehen. Aber auf ein Fest ging sie niemals ungeschminkt und hier gab es nichts dergleichen. "Was soll's!  Ich werde es diesmal nicht brauchen", dachte sie und ging an die Tür. die Musik kam war durch die Decke zum Saal im Untergeschoss zu hören. Von dort hörte sie auch Stimmen, Gelächter und Geschirrklimpern. Sie trat in den Flur und lief die Treppe herunter. Sie traute sich zuerst gar nicht dahin, denn sie war barfuss und ihr Gewand sah, wenn es auch aus noch so schönem Stoff war, eher wie ein Bademantel als ein Festkleid aus. Aber endlich sehen, was es mit diesem Fest auf sich hatte und so ging sie in die Richtung, wo sie den meisten Festlärm wahrnehmen konnte. Sie blieb vor der Tür des Saales stehen und sah auf das große Messingschild, das dort hing:

Welcome to the Feast!

war da zu lesen. der Türgriff war genauso warm, wie der, den sie zum Spiegelsaal in der Hand hielt. Aber hier hinter der Tür war etwas anders. Hier war es nicht still. Hier war ein fest!

Langsam öffnet Linda die Tür und beginnt, als sie den ersten blick in den Saal werfen kann, lauthals zu lachen. Dort sitzen Hunderte von Menschen, mit diesen weißen, schweren Bademantel-Gewändern an einem langen Tisch und essen. Als Linda so laut lacht, drehen alle ihren Kopf zu ihr und es entsteht kurz eine Stille im Saal. Das ende der Tafel kann Linda nicht sehen und jetzt ist es ihr peinlich, so laut gelacht zu haben. Sie hört die stimme, die zu der warmen Hand gehört vom ende der Tafel sagen: "Willkommen zuhause, Linda. setz dich her und feiere mit uns. Es ist dein und unser fest!" wieder beginnt die Musik zu spielen und die Leute nehmen ihre Unterhaltung wieder auf...

Wie im Traum geht Linda  an das Ende der Tafel und setzt sich nicht weit von dem Mann, der sie begrüßte auf einen freien platz. Er ist einfach gekleidet und unterhält sich weiter mit seinem Tischnachbarn.

Gütig sieht er sie an, lächelt und winkt ihr. Sie schaut nur flüchtig auf seine Hand. Sie sieht, dass sie scheinbar verletzt ist. Wie, wenn man sie mit einem scharfen Gegenstand durchbohrt hätte. Es wundert Linda, dass diese Wunden nicht verbunden sind, aber scheinbar scheint das hier niemanden zu stören. Auch bluten diese Wunden nicht. Sie sind einfach nur da. Linda sieht staunend einfach nur hin.

Dann stellt jemand  einen gefüllten Teller mit köstlichstem Essen vor sie.

Es duftet so lecker, dass Ihr Appetit das Staunen verdrängt.

Linda bedankt sich, nimmt die Gabel in die Hand und sticht damit in den Salat...

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